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Erinnerung an Tschernobyl und Protest gegen den russischen Vernichtungskrieg gehören zusammen!

Worte des Arbeitskreises Gedenken an der Madonna von Tschernobyl, 26. 4. 2022 (Thomas Gatter)

Foto Antonia Kleinert (2022)
Russlands Überfall auf die Ukraine hat dem Wort des Holocaust-Überlebenden Primo Levi, das ich schon gelegentlich zitiert habe, eine bittere Aktualität verliehen: Es ist geschehen, und deshalb kann es wieder geschehen.

Wir haben versagt. Ich sage bewusst „wir“, weil ich mich nicht ausnehme. Auch ich habe lange geglaubt, es müsse möglich sein, mit einem Russland unter Putin aggressionslos und konstruktiv koexistieren zu können. Aber vor allem hat die deutsche Regierung versagt, und zwar nicht erst die Ampelkoalition, sondern die Groko schon. Zugegeben, wir alle konnten uns wohl bis zum 24. Februar 2022 nicht vorstellen, dass ein europäischer Machthaber im 21. Jahrhundert das unverfrorene Projekt eines Neonazi-Imperialismus durchpeitscht, ohne Rücksicht auf Blutvergießen, ohne Rücksicht auf das Wohl des eigenen Volkes, ja selbst ohne Rücksicht auf sein eigenes Überleben.

Seit dem 24. Februar wird Russland mit Nazideutschland verglichen. Angesichts der Grausamkeit, mit der Putin den Überfall auf die Ukraine befehligt und rassistisch begründet, bröckelt die Ablehnung der Vergleichbarkeit mit Hitler. Die Bombardierung von Wohnvierteln, Geburtskliniken und Krankenhäusern, das wahllose Erschießen wehrloser Menschen, die Folterungen, die Massengräber, der Einsatz von Krematorien zur Beseitigung der Beweise für die Kriegsverbrechen – all das ähnelt den Verbrechen von Wehrmacht, SS und Polizei in den angegriffenen und besetzten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs zu sehr. In der Ukraine wurde dafür der Begriff „Raschismus“ laut, ein „russischer Faschismus“ eben. Dieser begründet seinerseits den Angriff auf die Ukraine als Kampf gegen ein angeblich neonazistisches Regime. Er gibt sich antifaschistisch, wendet aber selbst die Methoden von Nazi-Deutschland an.

Wer sich vor die Christerlöser-Kirche in Moskau stellt und das fünfte Gebot hochhält, wird verhaftet. Anstreicher sind emsig damit beschäftigt, die in der Sowjetära allgegenwärtige Losung Мир во всем мире – „Frieden für die Welt“ – von den Hauswänden zu löschen. Der Ton offizieller Statements ist schneidend aggressiv, die Botschaft selbst in ihrer Tödlichkeit widersinnig. Im Staatsfernsehen entrüstet sich eine Moderatorin, US-Präsident Biden habe Putin als Schlächter beleidigt, englisch butcher, nur deshalb habe man die Kiewer Vorstadt Butscha für eine „Provokation“ ausgewählt. Als “Provokationen ukrainischer Nazis“ und fake news des Westens, ja sogar als Hollywood-mäßige Inszenierungen mit als Leichen posierenden amerikanischen Schauspielern werden die Opfer der russischen Kriegsverbrechen verhöhnt.

Die Schauplätze haben jedoch Namen und heißen neben Butscha Mariupol, Kramatorsk, Propasna, Tschernihiv, Borodyanka.

Die Realität findet man in kargen Zitaten überlebender Frauen.(1) Eine alte Frau, deren Tochter vor ihren Augen getötet wurde: „Sie starb wie ein Tier, zusammengekrümmt am Ende der Nacht, im hintersten Raum ihres Hauses.“ Eine andere erinnert sich „an das fette Gesicht, den hasserfüllt zusammengekniffenen Mund des Jungen, der ihre Schultern herunterdrückte,“ während die anderen sie quälten. Nie wird sie „den Gestank seines kalten Schweißes vergessen, vermischt mit dem Geruch kalter Suppe und billigen Alkohols, den er unter Flüchen aus der Flasche trank, auch nicht die Worte, die sie an die Wand des Nachbarhauses zu schmieren sich erdreisteten: ,,Liebesgrüße aus Russland!“ Eine weitere: „Die Russen hatten Selbstfahrlafetten im Hof des Nachbarn geparkt, als die Ukrainer zum Gegenangriff übergingen, verdächtigten die Russen den Nachbarn, ihre GPS-Position verraten zu haben und richteten ihn mit einer Kugel in den Hals hin.“ Und noch eine Überlebende: „Der Sohn hatte in seinem Handy Bilder von zerstörten Panzern – sie schossen ihm den Kopf ab und ließen ihn drei Tage im Dreck liegen, wie um ihn noch mehr zu bestrafen, und die Soldaten traten sich an ihm wie an einer Fußmatte die Stiefel ab.“ Und wieder eine andere, die die Leiche ihres Mannes in einer Garage fand und ihn gerade im Garten begraben hatte: sie kann nicht darüber reden, alles was sie hervorbringt, sind Tränen und Stummheit.

Lebende misshandelt, Leichen zerfleddert, Kinder mitleidlos exekutiert, Überlebende gezwungen, sich im Blute ihrer Toten zu wälzen, Szenen wie aus einem Horrorfilm.

Doch dieses Gemetzel gegen Zivilisten, einfach weil man das Gefecht verloren hat und abziehen muss, dieses Bataillon von Killern im Blutrausch zwingt uns die Erinnerung an einen anderen Schauplatz auf, nicht My Lai, neine, Tulle und Oradour sur Glane, wo die SS-Division „Das Reich“, bevor sie in die Normandie verlegte, ihre Wut über die Invasion der Alliierten erbarmungslos an der Einwohnerschaft der Dörfer ausließ.

Vor einigen Jahren führte ich eine Reihe von Gesprächen mit einer Zeitzeugin, einer älteren Dame aus Ostpreußen, mit Käthe Werner. Unter Tränen erinnerte sie sich, wie sie auf der Flucht vor der Roten Armee im Frühjahr 1945 in der Nähe von Balga mit ihrer Familie eine Dorfkirche betrat, um zu beten. Dort hatte sie furchtbar verstümmelte Frauen gesehen, aufgehängt im Altarraum. Scham erfüllt mich, wenn ich heute daran denke, dass ich an ihrer Erinnerung zweifelte. 

Ich suche nach Erklärungen für die Bereitschaft zu solchen Gewaltexzessen, möchte ergründen: die Verwahrlosung der eigenen Werte, zu der jeder Krieg führt. Das hochgeputschte Adrenalin, das unter dem Druck der ständigen Kämpfe die Adern flutet. Die Angst um das eigene Leben, die umschlägt zur boshaften, charakterlosen Brutalität. In der russischen Truppe ist solche Roheit, so hört man, seit den Tagen der Roten Armee Teil des Einsatzspektrums, Bestandteil der Ausbildung gar. Die Rituale, in denen junge Rekruten dehumanisiert und von den „Großvätern“(2) grausamen, entwürdigenden Strafen unterworfen werden, haben eine lange Tradition. Derartige Gewalterfahrungen prägen die Soldaten möglicherweise für den Umgang mit einem als Feind betrachteten Menschen, gleich, ob es ein militärischer oder ziviler Feind ist.

Die Behauptung Putins, in der Ukraine Nazis zu bekämpfen, hat sich in russischen Köpfen eingenistet. Weil der unerwartete, leidenschaftliche Widerstand der ukrainischen Soldaten wie der Bevölkerung die russische Februaroffensive zum Scheitern brachte und zudem der von Putin in Aussicht gestellte Jubel der von Nazis „befreiten“ Ukrainer ausblieb, hat die von Moskau verbreitete Propaganda jetzt eine andere Stoßrichtung. Nicht mehr die angebliche, die eigentlichen Ukrainer unterdrückende Nazi-Regierung des Juden Selensky ist jetzt der Feind, sondern die Mehrheit der Menschen in der Ukraine, die offenbar allesamt Nazis sind. So dient die Legende von der Entnazifizierung der Propaganda nach außen wie nach innen als Begründung noch für das schlimmste Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung. Auch darin wird eine Rückkehr zum Stalinismus sichtbar, der routinemäßig die Demokratie mit Füßen trat, um die die Einheit von Regierung, Militär und Bevölkerung zu erzwingen. Der Krieg wird „Spezialoperation“ genannt. Auch die Sowjetunion hat offiziell nach dem „großen vaterländischen Krieg“ keine Kriege mehr geführt, sondern ist immer nur anderen Völkern gegen Faschismus, Konterrevolution und Imperialisten zu Hilfe geeilt: 1953 in Ostberlin, 1956 in Budapest, 1968 in Prag, 1979 in Kabul.

Die Entnazifizierungs-Erzählung wird mit Sprachregelungen unterstrichen. Russland sei einem "totalen Krieg des Westens" ausgesetzt, sagt Putins Außenminister Lawrow. Die Absage von Auftritten russischer Künstler aus Protest gegen den Krieg wird mit den Bücherverbrennungen von 1933 verglichen. Ein verzerrtes Echo dieser Spins ist in antisemitischen Vorfällen zu sehen. Der jüdische Journalist Alexej Wenediktow fand vor seiner Wohnung einen Schweinekopf, an die Tür hatten Unbekannte das blau-gelbe Staatswappen der Ukraine geklebt und das deutsche Wort "Judensau" geschrieben. Antisemitische Hetze gegen angebliche Nazis? Wer das kritisiert, wird als Volksverräter beschimpft und verfolgt, wie jene TV-Journalistin, die mitten in der Live-Sendung ein Schild in die Kamera hielt: „Hier werden Sie belogen!“. Putin propagiert im Grunde Lynchjustiz, wenn er im Nazijargon Bilder von Ungeziefer heraufbeschwört und fordert, das russische Volk solle seine inneren Feinde wie Mücken ausspucken.

Wenn man auf Bildern die Werbetafeln für den 9. Mai, in Russland der Feiertag des Sieges über Nazi-Deutschland, die Sprüche sieht – Frühling! Der Sieg ist nah! – dann ahnt man schon, wie der diesjährige Tag der Befreiung in den Dienst des Vernichtungskriegs gegen die Ukraine gestellt werden wird. Vor diesem Hintergrund fällt mir schwer zu ertragen, wenn ein Nienburger Gewerkschaftssekretär die Forderung „Freiheit für die Ukraine“ in meinem Gedicht „Anita Augspurgs Friedensrede“ zum 8. März deshalb ablehnt, weil es in der Ukraine Nazis gebe und die ukrainische Armee im Verdacht stehe, im Donbas auch einmal Streubomben eingesetzt zu haben. Diese Form von Whataboutism halte ich für verachtenswert. In jedem Krieg geschehen schlimme, entsetzliche Taten auf allen beteiligten Seiten. Jeder Krieg bringt in den Menschen Dinge hervor, die sonst tief im Unterbewusstsein vergraben sind. Aber wir schulden es der Wahrheit, klar zu benennen, wer Angreifer ist und wer Verteidiger.

Rund 200 000 Juden lebten bisher in der Ukraine. Viele von ihnen sind Hitlers Mordlust entgangen und müssen jetzt durch Putins Mordlust um ihr Leben fürchten. Etwa die Hälfte von ihnen, so wird geschätzt, werden in Deutschland Zuflucht suchen. Sie werden willkommen sein – dem Himmel sei Dank! Der Zentralrat der Juden hat mit der Bundesinnenministerin eine Vereinbarung treffen können, dass sie ihre Aufenthaltsanträge direkt bei den jüdischen Gemeinden stellen dürfen. Aber Gerechtigkeit sollte nicht teilbar sein. Wie stehen wir dazu, wenn, wie jüngst in Kassel geschehen, die Polizei aus den ankommenden Ukraine-Flüchtlingen gleich am Bahnhof die Roma-Familien selektiert und in eine Turnhalle transportiert, abseits der für alle andern vorgesehenen Gemeinschaftsunterkünfte?

Am andern Ende des Antisemitismus-Antiziganismus-Spektrums stehen die linken Demonstranten, die jetzt eine gleiche „Solidarität“ gegenüber den Palästinensern fordern, wie die Welt sie der Ukraine erweist. Was ist damit gemeint, schwere Waffen in den Gaza-Streifen?

Und noch ein Gedanke: Ist vielleicht Tschernobyl, an dessen Mahnmal wir hier stehen, Produkt der gleichen Machtgier und Menschenverachtung, die den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine befeuert? Vier Kernkraftwerke laufen noch in der Ukraine: Saporischtschja, Chmelnizkyj, Riwne und Juschnoukrajinsk. Vier Atombomben, wenn sie den russischen Truppen in die Hände fallen.

Bewusstes Erinnern sollte von dem Wunsch begleitet sein, aus dem Vergangenen zu lernen. Was wir begreifen müssen, so hat es die Konfliktforscherin Margaret Jenkins treffend beschrieben, ist wie sich das Böse im Menschen in den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen manifestiert. Wer führt es aus, warum und wie, wer sind die Leidtragenden? Wem nützt es? Wir können uns dieses dringend benötigte Lernen allerdings nicht aneignen, wenn wir das Böse aus Opportunismus oder Bequemlichkeit beschweigen. Der Krieg, der Völkermord und die politische Gewalt, die in der heutigen Welt zu finden sind, zeigen, dass es nicht ausreicht, nur zu sagen und zu hoffen: "Nie wieder". Wir brauchen eine umfassendere, robustere und besser artikulierte Typologie politischer Gewalt, ein konkreteres Verständnis dessen, wozu der Mensch fähig ist, und der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen seine potenzielle Monstrosität manifest wird.(3)

Ich schließe mit einem Gedicht von Ilya Kaminsky, der in Odessa geboren wurde und heute in den USA lebt. Es ist eine Mahnung, die wir nicht ignorieren sollten.

Wir lebten glücklich in der Zeit des Krieges

Als Bomben auf die Nachbarhäuser fielen,

protestierten wir
doch nicht genug, wir wehrten uns doch nicht

genug, ich lag
im Bett, rings um mich her das Land es

stürzte ein: unsichtbare Häuser eines nach dem andern.

Ich stellte einen Stuhl nach draußen und genoss die Sonne.

Im sechsten Monat
einer schlimmen Herrschaft hier im Geldhaus,

in der Geldstraße in der Geldstadt in dem Geldland,
in unserem tollen Geldland lebten wir (vergebt uns)

glücklich doch zur Zeit des Krieges. 
...

Slawa Ukraini!
______________
1 Die folgende Schilderung aus Kiew aus Homage to Borodyanka. Bearing witness to the horror and majesty of a ruined, resilient Ukraine, by Bernard-Henri Lévy, April 21, 2022, in: TABLET (Online Magazine, https://www.tabletmag.com/sections/news/articles/homage-to-borody)
2 Деды, dedi, werden die älteren Wehrpflichtigen und Vorgesetzten in der russischen Armee genannt.
3 Vgl. Margaret Jenkins, [Review of] Ayşe Gül Altinay and Andrea Petö (eds), Gendered Wars, Gendered Memories: Feminist Conversations on Wars, Genocide and Political Violence, Abingdon 2016; in: Journal of Women’s Studies, 1-4.

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