Pflegereform droht Heimplätze zu Luxusgütern zu machen
Bündnis für Soziale Gerechtigkeit kritisiert Spahns Pläne
Sie haben ein Berufsleben lang gearbeitet und ihr Geld selbst verdient. Ihre Beiträge zu Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung haben sie bezahlt. Nun sind diese Frauen und Männer in Rente und auf Hilfe angewiesen. Sie wohnen in Alten- oder Pflegeheimen im Landkreis und müssen um ihr Zuhause fürchten. Im Zuge der Spahn’schen Pflegereform sollen ihre Eigenanteile an den Heimkosten deutlich steigen.Namen sollen keine genannt werden, meint Marion Schaper, Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes in Nienburg und Mitglied im Bündnis für Soziale Gerechtigkeit. Sie und ihr Team haben bereits mehrere verzweifelte Senior*innen, Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige am Telefon gehabt. Diese Personen treibt die Sorge um, ihre Heimplätze bald nicht mehr bezahlen zu können.
Eigenanteil ist in Einzelfällen bereits um 50 Prozent in einem Jahr gestiegen
Das macht Marion Schaper wütend. „Nun hat man es recht gut geschafft, die vulnerablen Gruppen vor dem Virus zu schützen, und prompt droht vielen jetzt der finanzielle und soziale Absturz“, sagt sie. Zahlreiche Pflegeeinrichtungen erhöhen in diesen Tagen die Eigenanteile für ihre Bewohner*innen. „Wir kennen belegte Fälle, in denen der Eigenanteil innerhalb eines Jahres um rund 50 Prozent gestiegen ist“, ergänzt sie. „Man muss sich das vorstellen – von rund 1.400 Euro vor einem Jahr auf voraussichtlich 2.100 Euro ab April nach den noch anstehenden Pflegesatzverhandlungen. In jedem anderen Bereich würde man da wohl von Sittenwidrigkeit sprechen.“ Der Frust ist ihr bei dieser Aussage deutlich anzuhören.
Kostensteigerung ‒ Was können Betroffene unternehmen?
Wer mit etwaigen Kostensteigerungen für den eigenen Heimplatz oder dem einer/s Angehörigen konfrontiert wird, kann dagegen Widerspruch einlegen. In jedem Fall sollte die Einrichtung eine Kostensteigerung etwa vier Wochen vorab bekannt geben und das in schriftlicher Form. Den geltenden Heimvertrag und den Änderungsbescheid können Ratsuchende dann durch eine*n Sozialrechtsanwältin/anwalt auf Rechtmäßigkeit prüfen lassen. Auch Expert*innen der Verbraucherzentrale oder des Pflegeschutzbundes BIVA helfen weiter.
„Begründet werden die Erhöhungen vor allem auch mit den gestiegenen Tarifen in der Pflege. Das sieht das Pflegestärkungsgesetz vor, ist in der Pandemie versprochen worden und mehr als gerechtfertigt“, so Schaper. Sie und Werner Behrens, Vorsitzender vom Verdi- und DGB-Ortsverein Nienburg und Koordinator des Bündnisses, hinterfragen allerdings, ob die Pflegekräfte denn auch tatsächlich von diesen Beschlüssen profitieren werden. „Mit einem bundesweiten Tarifvertrag wollten Verdi und der Bundesverband Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) für Mindestbedingungen in der Altenpflege sorgen“, so Behrens. Aber: Einen verbindlichen Tarifvertrag für die Altenpflege, wie es der Bundesarbeitsminister angestrebt hat, wird es nicht geben.
Reform bietet keine finanzielle Entlastung im ersten Jahr
Die Caritas habe sich laut Behrens dagegen ausgesprochen, und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände habe „massiv Stimmung gegen die geplante Allgemeinverbindlichkeitserklärung gemacht. Ebenso die privaten Pflegeanbieter“.
Schaper und Behrens zufolge zeige sich damit ein strukturelles Problem des Pflegestärkungsgesetzes: Es wälze quasi alle Kostensteigerungen auf die Betroffenen ab. Das bemängelt auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen: Demnach habe das Bundesgesundheitsministerium (BGM) 2020 angekündigt, den Eigenanteil für Pflegebedürftige an den Pflegekosten im Heim für die ersten drei Jahre auf 700 Euro monatlich zu begrenzen – und im Anschluss ganz entfallen zu lassen. Das ist nicht mehr so.
„Jetzt plant das BGM für Betroffene künftig erst ab dem zweiten Jahr im Heim einen finanziellen Zuschuss in Höhe von 25 Prozent, der sich im dritten Jahr auf 50 und im vierten Jahr auf 75 Prozent erhöhen soll. Die durchschnittliche Verweildauer in deutschen Pflegeheimen beträgt jedoch lediglich 18 Monate, was bedeutet, dass Pflegebedürftige somit im ersten Jahr weiterhin keine finanziellen Entlastungen erfahren“, rechnen die Verbraucherschützer*innen vor. Die Bewohner*innen müssen den pflegebedingten Eigenanteil von bundesweit inzwischen deutlich über 800 Euro alleine zahlen, Tendenz steigend.
Verbraucherzentrale schließt sich der Verdi-Kritik am Gesetz an
Geplant sei derzeit lediglich, die Investitionskosten zukünftig von den Bundesländern bundeseinheitlich mit 100 Euro pro Heimbewohner*in zu bezuschussen. Doch das bietet keine spürbare Entlastung für Verbraucher*innen. „Derzeit reichen die Investitionskosten von knapp 300 Euro in Sachsen-Anhalt bis rund 550 Euro in Nordrhein-Westfalen. Im Bundesdurchschnitt belaufen sie sich auf knapp 500 Euro. Ein pauschaler Zuschuss unabhängig von den regionalen Gegebenheiten und ohne entsprechende jährliche Dynamisierung deckt keinesfalls die Pflegekosten“, folgert die Verbraucherzentrale.
Was kostet ein Heimplatz?
Wer in einer Pflegeeinrichtung wohnt, bezahlt nach Angaben des Pflegeschutzbundes BIVA ein Heimentgelt, das drei Komponenten umfasst: Pflege, Unterkunft/Verpflegung und Investitionskosten. Die Pflegekosten übernimmt die Pflegeversicherung entsprechend der Pflegestufe der/s Betroffenen oder der Sozialhilfeträger, wenn der Betrag höher ist. Der sogenannte „einrichtungseinheitliche Eigenanteil“ (EEE) besagt, dass jede*r Bewohner*in in einer Einrichtung, gleich welchen Pflegegrades, den gleichen Betrag für die Pflege zahlen muss. Die Kosten für Unterkunft/Verpflegung und die Investitionskosten tragen die/der Bewohner*in oder ein Sozialhilfeträger.
Die Investitionskosten sollen dem Pflegestärkungsgesetz zufolge zukünftig die Bundesländer mit 100 Euro pro Heimbewohner*in bezuschussen. Doch Verbraucherschützer*innen kritisieren hier, dass dies keine spürbare Entlastung für Verbraucher*innen sei. Diese Kosten schwanken und reichen von knapp 300 Euro im Monat in Sachsen-Anhalt bis rund 550 Euro in NRW. Im Bundesdurchschnitt belaufen sie sich auf knapp 500 Euro monatlich.
Jede*r Betreiber*in kalkuliert die Kosten selbst, muss sie allerdings von den Pflegekassen und den Sozialbehörden genehmigen lassen. Im Schnitt mussten Pflegebedürftige Anfang 2020 dem Verband der Ersatzkassen (vdek) zufolge pro Monat 1.940 Euro selbst aufbringen. Darin waren neben der Pflege die Unterkunft, Essen und weitere Nebenkosten enthalten. Während in Sachsen-Anhalt ein Heimplatz im Schnitt 1.359 Euro kostete, waren es in Nordrhein-Westfalen 2.357 Euro. In Niedersachsen kostet ein Heimplatz durchschnittlich 1.612 Euro im Monat.
Marion Schaper fordert daher im Namen des Bündnisses für Soziale Gerechtigkeit, die Eigenanteile auf einem sozial verträglichen Niveau zu deckeln. „Oder das Land müsste endlich, wie auch im Bereich der ambulanten Pflege und der Tagespflege, die Investitionskosten bezuschussen. Das würde eine Entlastung von gut 500 Euro im Monat bedeuten“, meint sie. Die Einführung eines Pflegewohngeldes könnte laut Schaper ebenfalls Erleichterung für die Betroffenen schaffen.
Bezieher*innen überdurchschnittlicher Renten droht die Grundsicherung
„Wenn nichts passiert, dann werden wieder viele Betroffene Grundsicherung beantragen müssen, und zwar, obwohl sie, gemessen an der Durchschnittsrente in Niedersachsen von 1.325 Euro – bei Frauen 981 Euro – eine deutlich überdurchschnittliche Rente haben“, befürchtet Marion Schaper.
Das heißt: Die Betroffenen müssen ihre Ersparnisse und Vermögenswerte außer einem Selbstbehalt von 5.000 Euro aufbrauchen. „Bei der letzten Erhöhung in 2020 hat dies allein im Landkreis Nienburg 100 Personen getroffen“, erinnert sich Schaper. Sie wundert sich daher, weshalb die Kreisverwaltung, auf die diese Anträge auf Sozialhilfe – und die entsprechenden Kosten – dann zukämen, in dieser Richtung nicht aktiv werde. „Die Kommunen müssten eigentlich aufschreien“, meint Schaper.